Die Einführung der neuen Anwurfzone zum Saisonbeginn hat das Handballspiel noch mal um einiges schneller gemacht. Mit gravierenden Folgen hinsichtlich der Torhäufigkeit. Tut das dem Spiel noch gut?
„Ein Fuß auf die Mittellinie und stehen“ – mit diesem Kommando wurde bis zum Sommer 2022 Handballern und solchen, die es werden wollten, der Anwurf nach Torerfolg beigebracht. Doch seit dem 1. Juli 2022 gilt anderes: Sechs Jahre nach der letzten großen Weichenstellung griff der Weltverband IHF erneut in das Regelwerk ein. Neben einer härteren Bestrafung im Falle eines Kopftreffers beim Torwart und einer Anpassung in Sachen passivem Spiel, wurde eine Anwurfzone eingeführt.
Der große Unterschied zur alten Regel: Anders als bislang muss der Spieler den Anwurf nach einem Tor nicht mehr mit einem Fuß auf der Mittellinie stehend ausführen. Die Ausführung darf innerhalb der kreisförmigen Anwurfzone mit einem Durchmesser von vier Metern in voller Bewegung erfolgen. Der Anpfiff ist möglich, sobald sich der Ball und ein Spieler mit mindestens einem Fuß innerhalb des Kreises befinden. Was gravierende Folgen hat – denn das schnelle Spiel ist noch einmal um einiges rasanter geworden und mehr Angriffe führen natürlich zu deutlich mehr Treffern. Auch beim EZ-Pokal fielen die Tore teils wie am Fließband – das höchste Ergebnis in der Vorrunde lieferten der TSV Neuhausen und der TSV Denkendorf beim 23:11-Erfolg des Drittligisten .
Nach der alten Regelauslegung wurde – je nachdem, wie penibel die Schiedsrichter pfiffen – häufiger mal die „Schnelle Mitte“ unterbunden. Was natürlich besonders in der sogenannten Crunchtime für Diskussionen sorgte. „Mit der Regeländerung sollte der Anwurf für den Schiedsrichter vereinfacht werden, das ist gelungen. Es gibt weniger Proteste“, sagt Jürgen Rieber. Der ehemalige Bundesliga-Referee aus Ostfildern ist Mitglied im dreiköpfigen Lehrstab des Deutschen Handballbundes (DHB) und stand dem Gremium bis 2020 zehn Jahre lang vor. Dennoch steht Rieber der Änderung zwiespältig gegenüber: „Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge – klar ist nun die Situation des Anwurfs aus Sicht des Schiedsrichters einfacher zu beurteilen, aber ob es dem Handball als Sportart gut tut, steht auf einem anderen Blatt.“ Die Torhäufigkeit habe über alle Ligen hinweg deutlich zugenommen, hat Rieber beobachtet, und er befürchtet, die Attraktivität der Sportart könne unter der Torflut leiden: „Man kommt langsam zu einem Punkt, an dem weder die Spieler, die Schiedsrichter oder die Zuschauer noch groß Zeit zum Luftholen haben.“
Auch Holger Fleisch, der viele Jahre zusammen mit Rieber im DHB-Elitekader stand und heute stellvertretender Schiedsrichterwart im Bezirk Esslingen-Teck ist, steht der Regeländerung mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Man kann sich schon fragen, ob das noch das Spiel ist, das man haben will.“ Denn für den Nellinger gehört zum Handball nicht nur der Angriff sondern auch die Abwehr – und die schaut bei bei den nun manchmal überfallartigen Attacken allzu oft in die Röhre. Allerdings hätte Fleisch nicht gedacht, dass sich die Einführung der neuen Anwurfzone sofort in der ersten Saison so extrem auswirkt: „So was wird von den Trainern immer deutlich schneller umgesetzt als wir Schiris es erwarten.“
Trainer Stefan Eidt vom Württembergligisten TSV Deizisau zum Beispiel hat die neue Anwurfzone bereits in der Saisonvorbereitung bewusst thematisiert: „Es war klar, dass das Spiel schneller wird.“ Er schätzt, dass nun zwischen fünf und acht Angriffe mehr pro Team rausspringen, womit selbstredend die Torhäufigkeit zunimmt: „Und deswegen muss es jetzt auch, wenn man mal 30 Tore kassiert, nicht gleich heißen, dass die Abwehr beziehungsweise der Torwart schlecht war.“ Unterm Strich begrüßt Eidt die Regeländerung, vor allem wenn sie mit Struktur gespielt wird: „Sonst wird es unattraktiv für den Zuschauer – es muss Cleverness in die Thematik rein.“ Trainer Sven Strübin vom Verbandsligisten SG Hegensberg-Liebersbronn sieht die neue Anwurfzone ebenfalls als Vorteil: „Das Tempo steht im Vordergrund und das Spiel wird noch mal mehr belebt.“ Zudem mache die neue Regel den Job für den Schiri um einiges einfacher: „Die positiven Aspekte überwiegen.“
Und was sagt ein gestandener Keeper, dem seit Anfang der Saison nun mehr Bälle um die Ohren fliegen? „Man kann sich dadurch noch öfter auszeichnen“, grinst Tim Boss (32), der seit 20 Jahren bei Verbandsligist Team Esslingen zwischen den Pfosten steht. Und obendrein, fügt er hinzu, sei es für ihn so einfacher den Ball hinten raus zu spielen: „Das ist wie bei einer Harpune – ich muss den Ball dem Spieler in die Bewegung werfen.“ Natürlich sehe die eine oder andere Abwehrleistung dabei nicht prickelnd aus. Aber Boss nimmt es sportlich: „Mit einer guten Rückzugsbewegung kann man auch diese Angriffe verteidigen – es muss ja nicht sein, dass jeder Ball frei aufs Tor kommt.“